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Dienstag, 8. Dezember 2009

Rügen: Ein Autor ist nicht allein zum Lesen da

Michael Jürgs in der Stralsunder Weiland-Buchhandlung

Friedrich Schorlemmer im Sassnitzer Grundtvig-Haus

Fotos: © ostSeh/Küstermann

Sassnitz/Stralsund. (ostSeh) Gut erinnere ich mich noch an die Ausstellung von oder besser über die Künstlergruppe Clara Mosch in Prora. Das bedeutende Rüganer PEN-Mitglied ARTus bemängelte damals an der Berichterstattung in einer lokalen Zeitung, dass ich mich an diesem Abend journalistisch auf die Stasi-Überwachung der Gruppe zu sehr konzentriert hätte. Dabei sei Clara Mosch doch soooh relevant, die Kunst doch soooh bedeutend gewesen. Diese Kunst oder was davon übrig geblieben war, konnte jedoch von der Öffentlichkeit noch drei Monate betrachtet werden. Die Filmdokumentation über die noch lebenden Künstler beim Öffnen der Stasi-Akten 1992 war jedoch nur einmalig vorgesehen gewesen und für mich das thematisch wichtigere Ereignis, wenn man sich als Autor beschränken muss. Da dies Thema ja nach Aussage mancher Jungredakteurinnen heutzutage sowieso niemanden mehr interessiere, gleich zweimal. Wohl auch mit ein Grund, warum die hier betrachtete Schorlemmer-Veranstaltung in Sassnitz nicht von den Print.-Medien besetzt war und nur für ein launiges Künstlerportrait gut war.

Diesmal also bemängelt ARTus genau das Gegenteil.
http://www.ostsee-zeitung.de/ozdigital/archiv.phtml?param=news&id=2634157

Auf einer Lesung mit dem Autoren und vor allem Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer im Sassnitzer Grundtvighaus ist ihm, ARTus, dieser zu weich, zu launisch. Es fehlt ihm die Schärfe. Das Motto seines aktuellen Buches „lass es gut sein“, abgeleitet vom Beatles-Song 'let it be' bezeichnet er als launige Wortwahl. „Ich bin nicht der Typ, der den Dingen ihren Lauf lässt, sie sein lässt“, hatte Schorlemmer zu Anfang aber deutlich und unüberhörbar erklärt. Doch im Sinne eines Kriseninterventionsteams erläuterte er auch, dass es gut sei, vor Eskalation eines Streits mal zu sagen: „komm, lass es gut sein!“. Schorlemmer belegt das mit einem Beispiel. Er erzählt, auch Parteimitglied zu sein. Brüstet sich jedoch nicht damit sondern spricht eher peinsam davon, dass er manche Veranstaltungen vorsichtshalber nicht mehr besucht, ihnen fern bleibt, weil er die Partei sonst als Reaktion auf den Umgang untereinander verlassen müsste.

„Im Interessenskampf um die Güter des Lebens sollten wir uns an Regeln halten. Wie wäre es zudem, wenn wir wieder dialektisch denken?“ Freiheit, Gerechtigkeit, Verantwortung hätten etwas miteinander zu tun, sollten nicht im Terror der Ökonomie untergehen. „Markt muss sein, aber nicht bis zum Marktismus“, sagte Schorlemmer teilweise sehr weise und nahtlos seine Gedanken überleitend. „Doch der Markt darf nicht alles regulieren“, galt die Aussage der heutigen Zeit und nicht 20 Jahre davor. Um das zu verstehen, muss man jedoch auch am Markt und in ihm agieren und nicht in einer Kunstwelt.

„Ihr konntet wählen, wir falten. Ihr wart westorientiert – wir auch!“, war eines der Bonmots des Abends, der ansonsten leise, nachdenkliche Töne aus Schorlemmers hiesigem Lebensumfeld hervorbrachte. In einer Veranstaltung, die nahezu 100 Gäste zählte. „Achtung und Respekt vor dem Selbstgefühl ohne entstellende Narben“ verlangte der Bürgerrechtler in Worten, denen ich beim Zuhören eine gute Dramaturgie statt reiner Lehre, keinesfalls jedoch „joviales kaschieren“ oder die Forderung, etwas „ad acta zu legen“, entnahm. Schorlemmer sprach Klartext im Sinne der heutigen Zeit. Die zumindest für ihn offensichtlich nicht stehen geblieben ist. Man könnte auch sagen, dass er sich entwickelt hat und die Probleme der Zeit weiterhin in den Augen behält. Einer mit seinem Arbeitspensum, der heute sagt, er fliegt nicht mehr im Inland, hat Konsequenzen gezogen. Nicht radikal genug?

Bei ihm scheint die Zeit jedenfalls nicht stehen geblieben oder gar mit Wehmut vergangen zu sein. Aber er hat sich auf ein Publikum eingestellt, das etwas von ihm erwartet. Und sei es nur intelligente Unterhaltung Ihn deshalb perfide mit der Blödel-Figur Horst Schlämmer zu vergleichen, ist schon ein ganz spezieller KunstARTgriff.

Weil wir schon bei Literatur sind, welche die Gemüter bewegt und dennoch unterhält, hier einen Szenenwechsel in die Hansestadt Stralsund.

Buchhandlungen sind Geschäfte, die Bücher feilbieten. Manchmal holen sie auch ihre Autoren da hin. Wie weiland gleichnamige Buchhandlung in Stralsund. Michael Jürgs lockte weit über 60 Zuschauer an, was ich bis dato nur Stralsund für eine Lesung zugetraut hätte. Irrtum, musste ich Tage später eingestehen. Schorlemmer, übrigens mit einem weitaus älteren Publikum als Jürgs, toppte das. Deutlich. Auf Rügen wohlbemerkt.

Jürgs also befasste sich mit seinem derzeitigen Lieblingsthema. Den regionalen Seichtgebieten. Da kommt ein ehemaligen Stern-Chefredakteur dann doch auch um klare Medienschelte nicht herum. Dennoch ohne Besserwisserei unterhaltsam und keineswegs seicht. Wie wohltuend. So widmete er nicht nur Sendungen mit dem Commedian Mario Barth ein Kapitel, von dem ich mich danach glücklich schätzte, dass ich ihn schon vorher nicht kannte. Und wohl auch hierüber hinaus nicht kennen muss. Aus seiner Sicht versuchte Jürgs zu belegen, dass mediale Seichtgebiete sowohl beim Fernsehen als auch beim Dudelradio überdurchschnittlich häufig in den neuen Ländern angesiedelt seien. Das „warum“ wäre dann allerdings nachzulesen. „Sprache oder Druckwerke von Sprachlosen“, nennt er es und meint auch Zeitungen. „Seichtgebiete“, so Jürgs, „sind gedruckte oder gesendete Verwahrlosung“. So definierte er seine Kritik am Verfall der Sprach- und Medienkultur. Und Jürgs ist dabei nicht zum Autor mutiert, sondern Journalist geblieben: „die Wiederentdeckung des Journalismus war die Folge meines Rauswurfs beim Stern.“

Jürgs Sprache hat eine andere Art von Deutlichkeit, die sich hart am Rande des Zynismus bewegt, die Grenzen jedoch kennt. Ebenso intelligent wie unterhaltsam, wortakrobatisch. Schulen als „little Horrorshops mit vielen kleinen Monstern“, die auch dem täglichen Fernsehkonsum entsprängen. Dort würde heute das Leergut gesammelt, das später Pfand im Sinne von ALGII nach sich zöge. Da muckte dann die Lehrerin schon mal auf, die im Publikum das Wort Oberlehrerin zu häufig vernommen hatte. „Sowas hatten wir doch gar nicht in der DDR“.

Übrigens konnte ich dank KollegInnen aus JoNet auch endlich das Rätsel lösen, warum mir bei Jürgs immer das Wort Schwanz oder Pimmel einfiel. Auch ein Unterhaltungswert des Abends mit Langzeiteffekt:

http://library.fes.de/cgi-bin/cour_mktiff.pl?year=198402&pdfs=198402_008


Was die beiden Autoren oder Veranstaltungen eigentlich verbindet, um sie hier so traut nebeneinander zu vereinen? Ehrlich gesagt, habe ich mir zu dieser Verbindung auch lange Gedanken gemacht.
Das Resultat: was ich bei beiden Sachbuchautoren berichtens- und bemerkenswert fand, war die Tatsache, dass mir mit der jeweiligen Veranstaltung jemand einen Mehrwert in Form von intelligenter Unterhaltung angeboten hat, den ich durch das Buch alleine vermutlich nicht wahrgenommen hätte. Es war wie bei einer Vernissage, wenn der Künstler anwesend ist: die Bilder, möglicherweise fern von meiner Kunst- oder gar Lebenswelt angesiedelt, bekommen nur an diesem Abend mehr Leben, mehr Bedeutung. Und mein fauler Geist konnte den Esprit des Autoren frei Haus genießen. Ja, es ist gar so, dass ich dieses Ereignis hätte missen müssen, wäre der Autor nicht in der Lage gewesen, aus seinem geschriebenen Wort auch ein lebendig gesprochenes zu machen.

Und da wären wir wieder bei Schorlemmer, bei der Frage, wie puristisch eigentlich eine Lesung sein muss?

Ich finde, werter ARTus, eine Lesung ist Unterhaltung, die nicht nur das Buch wiederkäuen sollte. Und sich von einer Laudatio deutlich unterscheiden muss... Deshalb bezahlt der Gast übrigens auch einen Obulus, obwohl er das Buch ja einfach kaufen könnte. Was viele Autoren, schlimmer noch, Laudatoren missverstehen. Der wirkliche Unterhaltungwert einer Lesung oder Laudatio liegt im authentischen Erlebnis der Veranstaltung, die sich mit dem Buch alleine (ersatzweise der Kunst alleine..) nicht wiederholen lässt. Und SO GESEHEN hat Friedrich Schorlemmer mit einem Schlämmer so viel gemein, wie sein oder andere ARTus-Portraits mit dem wirklichen Menschen.. :-) Das wolle ich schon immer mal loswerden. Auch wenn ein paar verbleibende Löckchen oberhalb der Stirn auf der Zeichnung noch feinsinnig die '89 modellierten...

© ostseh 2009/ andreas küstermann




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