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Mittwoch, 19. August 2009

Vom Wunsch, Spuren zu hinterlassen

Foto: ostSeh/Küstermann

Sellin/Rügen (ostSeh) Schneeengel frieren nicht. Hinterlassen aber sehr wohl Spuren. Besser: der Schneeengel ist in seiner Vertiefung die Spur ansich, der Eindruck. Das könnte das Resümèe des Tierarztes Dr. Berndt Seite sein, der bis 1998 gar Ministerpräsident in MV war und bis 2002 dem Schweriner Parlament angehörte.

Seite las am 17. August im Selliner Cliff-Hotel aus seinen Erinnerungen unter obigem Titel, wurde aber den Erwartungen der Vorankündigung nicht gerecht. Der Mann, der 27 Stasi-Akten sein Eigen nennt, diese derzeit in einem anderen Projekt auch mit Jugendlichen und jungen Journalisten aufarbeitet, erzählte trotz entsprechender Vorankündigung wenig bis eigentlich gar nichts darüber, wie er in Kontakt mit Horch und Guck geraten war. Und wie sich das auf sein exemplarisches Leben als DDR-Bürger und kirchlicher Funktionsträger auswirkte. Einzig dass er 1974 nach Wahl ins Konsistorium der evangelischen Kirche eine Vorladung der Verkehrspolizei „zur Klärung eines Sachverhalts“ erhielt, die dann im Nebenzimmer bei den drei obligatorischen Herren endete.

Was hatte der bis dato unbescholtene Tierarzt gemacht? Nach langem Zögern und einer Kopfwäsche seiner Frau war er dem Ruf der Kirche nachgekommen, in deren Kirchenparlamant als neutraler und unbescholtener, parteiloser Bürger einzutreten und sich zu engagieren. „Bis dahin schwamm es sich gut im Meer der kleinen Fische“, ließ er auch Selbstkritik anklingen. Diese Vorarbeit relativiert auch den leichten Spott über seine Regierungszeit, bei der die Bevölkerung oft anklingen ließ, „nur“ von einem Tierarzt regiert zu werden. Mehr eigenständige Erfahrungen in anderer als der zentral gesteuerten parlamentarischer Arbeit brachten wenige hier aufgewachsene Politiker mit. Und der Rest hatte seine Meriten bei den Blockparteien verdient.

Literarisch ausgefeilt las er distanziert aus seinen Kapiteln in der dritten Form, was zwar durchaus anspruchsvoll klang, auch in die vor DDR-Zeit der Vertreibung führte, doch irgendwie an den Erwartungen zumindest eines Teils des Publikums vorbeiging. Die sich ihm gegenüber schuldig bekannten, die Akten der Stasi gefüllt zu haben, seien sehr wenige gewesen, erzählt er. „Wenn jemand sich schuldig gemacht hat, kann ich doch auch eine Entschuldigung erwarten“, erläutert Seite weiter und beklagt den Begriff der Wende, den er für fatal hält. „Auch unsere Mutter schon hatte alte Soldatenmäntel gewendet und uns Kindern daraus Kleidung gemacht,“ komplettiert er das Bild, das er meint.

Seite bedauert, dass die Stasi so in den Vordergrund gerückt worden sei und die Täter nicht wirklich zur Verantwortung gezogen worden sind. Die Täter? „Die Volkskammer hatte nicht den Mumm dazu, die eigentlichen Repräsentanten des Staates anzuklagen. Und von 10 000 Anklagen insgesamt gab es 63 Verurteilungen“, bedauert er. „Was sollen spätere Generationen daraus ableiten? Sicher ist: Wenn das Rudel unterwegs ist, beißt nicht nur der Anführer.“ Seite ist sich jedoch auch sicher, dass wir nach wie vor mehr Faschismus als DDR aufarbeiten und es noch eine Zeit lang dauere. „Der Komplex DDR ist noch gar nicht aufgerufen. Wir beschäftigen uns noch mehr mit Hitler“, ließ er verwundert vernehmen und man fragt sich im Publikum, ob nicht der Film „Das Leben der Anderen“, in der Aufarbeitung von Inhalt und Zeit nicht durchaus eine neue Qualität gegenüber der Aufarbeitung des Faschismus in der BRD darstellt.

Dass er durchaus auch streng moralisch urteilt, zeigte die Passage, als sein Gemeindepastor sich gen Westen verabschiedete, sozusagen seine Schäflein im Stich ließ. Das empörte ihn. „Wir haben dafür gesorgt, dass Pastoren im Westen keine Pastorenstelle mehr bekamen. Unserer musste bis in die Schweiz gehen“, scheint es ihm heute noch Genugtuung gegenüber den „Fahnenenflüchtigen“

Was Berndt Seite übrigens noch bedauert, ist die Entscheidung, in dieser so spannenden Zeit der politischen Verantwortung kein Tagebuch geführt zu haben. „Davon hatten mir politische Kollegen angesichts von Untersuchungsausschüssen abgeraten, da auch das Gegenstand von Vernehmungen werden könne. Heute fehlt ihm das, weshalb er sich die Zeitschiene und die Ereignisse mühsam wieder erarbeiten habe müssen. Und manchmal kam im Publikum auch der leise Zweifel auf, ob der eine oder andere geschichtliche Fakt wirklich genau so einer Prüfung standhält.

Dr. Berndt Seite, geboren 1940 in Schlesien und aufgewachsen in der DDR, kam nach 1989 als Seiteneinsteiger in die Politik. Von 1990 bis 1991 war er Landrat des Landkreises Röbel, 1991-1992 Generalsekretär der CDU Mecklenburg-Vorpommern und von 1992 bis 1998 Ministerpräsident des Landes. Er lebt mit seiner Familie in Mecklenburg-Vorpommern.

© 2009 ostSeh / ANDREAS KÜSTERMANN

Anmerkung der Redaktion:

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