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Freitag, 24. Juli 2009

Eine reformierte DDR wäre nicht gelungen

(ostSeh) Dr. Ehrhart NEUBERT, Erfurt, (geb. 1941), trug in der Wegekirche Landow Thesen zu Sprache und Gewalt in der DDR vor. 2008 veröffentlichte er das Buch "Unsere Revolution 1989", in dem er von ungewöhnlicher Seite her die Lage der letzten Monate vor der Wende analysierte und Witze ebenso wie Gedichte auswertete. Es moderierte die Veranstaltung der Pastor im Ruhestand Martin Stemmler.

Landow. (ostSeh) 25 Gäste waren nicht üppig beim Vortrag von Dr. Ehrhart Neubert (geb 1940) in Landow. Immerhin 60 Besucher fanden am Abend vorher nach Altenkirchen, um die Thesen zu Sprache und Gewalt des Theologen und Mitbegründers vom demokratischen Aufbruch zu verfolgen. Neubert, der vergangenes Jahr ein analytisches Buch unter dem Titel „Unsere Revolution 1989“ veröffentlicht hatte, verzichtete auf die üblichen Elemente einer Lesung und gestaltete in freier Vortragsform einen äußerst spannenden Abend. Mit der Aussage, „Zeitzeugen sind die ärgsten Feinde der Zeitgeschichte“, begründete Neubert seine wissenschaftliche Vorgehensweise, nicht chronologisch sondern eher analytisch durch die Ereignisse zu gehen. Dafür hatte er analysiert, warum es den Reformern in der DDR gelang, trotz Staatsmacht die Nischen der Kirche nicht nur zu besetzen, sondern zunehmend auf den öffentlichen Raum auszuweiten. Es mache wenig Zweck, nur Ereignisse aneinander zu reihen. Denn Geschichtsschreibung sei oft eine Konstruktion aus eigenen Interessen. Einen kleinen sogenannten Revolutionskalender mit neun Tagen im November hat er dennoch erstellt. Zudem einzelne Tage nach seinem Muster analysiert, an denen beispielsweise erstmalig „Keine Gewalt“ gerufen wurde. Oder den 18. März mit den ersten freien Wahlen, um nur wenige zu nennen.

Neubert definiert Macht als die Fähigkeit, anderen seinen Willen aufzuzwingen. Trotzdem die Instrumente der Herrschaft auf der anderen Seite gewesen seien, sei in der jeweiligen Sprache ein deutlicher Machtverfall einerseits und Zuwachs derer andererseits zu bemerken. Besonders eindrücklich der wiederkehrende symbolische Bezug in den Kirchen zu 40 Jahren Staatsgründung. In einer Kirche wurden beispielsweise nach und nach 40 Kerzen gelöscht, ohne dass dies erklärt werden musste.

„Jeder DDR-Bürger hat die Verlangsamung der Zeit gespürt. Die Revolution beschleunigte diese wieder“, sagt Neubert und führt an, dass alle Bewegungen etwas Dynamisches im Namen führten wie beispielsweise den Aufbruch. „Kaum hatten wir auf unseren Wachsmatritzen etwas fertiggeschrieben, waren die Fakten schon wieder völlig anders.

„Wenn Menschen zusammenkommen, entsteht in den Zwischenräumen Sprache. Ob das die Witzkultur ist, für die Witzeerzähler in den 50-ern noch in den Knast gingen, oder die Predigt, das Friedensgebet. Das erkläre vermutlich auch, warum so viele auch ohne christlichen Glauben die Kirche nutzten. „Was für ein Land, wo Leute hinausspritzen, wie Wassertropfen aus der Pfütze, in die ein Kiesel geworfen wurde. Wer hat ihn geworfen?“ zitiert er ein zeitgenössisches Gedicht als weitere Form der Sprache. Als die SED den Dialog als Ventil anbot, wurde das Ansinnen enttarnt und verhöhnt. Auch da wieder verbale Formen der Machtprobe. Leise oder bei Sprechchören.

Die anschließende kurze Debatte zeigte jedoch auch die heutige Unentschlossenheit beim Umgang mit den Tätern in der jeweiligen Umgebung. Beispielsweise den freiwiligen Spitzeln oder informellen Mitarbeitern. Während Martin Stemmler nach Ansprache des Themas in seinem Freundeskreis Unlösbarkeit und einen Status Quo konstatierte, engagierte sich Neubert auch in der Birthler-Behörde. Dennoch habe auch er „irgendwie damit gelebt“, dass das Leben verseucht mit Spitzeln war.

Großes Interesse bestand im Publikum an der IM-Tätigkeit von Wolfgang Schnur, den viele als Wegefährten kannten. Kathrin Eigenfeld, Bürgerrechtlerin aus Halle, stellte jedoch trotz aller Euphorie im Gespräch klar, dass der ständige Begleiter bis zum 9. November die Angst gewesen sei. Trotz aller Stärke.

Ein kurzer Ausflug in die Gegenwart bestätigte nochmals, dass die Geschichte noch gegenwärtiger ist, als ihre heutigen Auswirkungen. Eben bei jenem Thema, wie die Gesellschaft heute mit den Ims in ihrer Mitte umgehe. Eine Debatte über Regelüberprüfungen führe da nicht weiter. Zumal diese oftmals gesteuert sei, wie ein Gast einwarf. Er habe von einem Oberen des BGS gehört, dass man sich ja dann wieder von vielen Leuten trennen müsse.

Neubert, übrigens erstaunlich offen und ehrlich auch bei eigenen Ängsten und Eingeständnissen seiner Pastorenzeit, betonte nochmals, dass auch die heutige friedliche Vereinigung Europas seiner Ansicht nach auf die friedliche Revolution 1989 zurückginge. „Wir müssen dagegenwirken, dass sich eine schleichende Bagatellisierung verbreitet“, äußerte er zur Wichtigkeit dieser einzigen erfolgreichen, deutschen Revolution. Er gab dem Versuch eine Abfuhr, einen dritten Weg jenseits von Sozialismus und Kapitalismus als reformierte DDR zu gehen. „Eine reformierte DDR wäre nicht gelungen!“

© 2009 ostSeh / ANDREAS KÜSTERMANN

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